Ruth Erdt

Die Lügner

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BEWEGTE BILDER – BEWEGENDE BILDER Fotostiftung Schweiz zeigt Arbeiten von Ruth Erdt NZZ Neue Zürcher Zeitung Nov. 2010 Von Philipp Meier

Was wie ein Theaterstück klingt – «Die Lügner» –, ist auch eines: ein Familiendrama in gewissem Sinn, festgehalten von Ruth Erdt in Fotografien. Die Zürcher Künstlerin dokumentiert seit gut 25 Jahren die Menschen in ihrem nächsten Lebensumfeld. Wobei der Begriff des Dokumentarischen bei ihr viel zu kurz greift.

Als Künstlerin nimmt sich die Fotografin die Freiheit, in ihrem Schaffen weit darüber hinaus zu gehen. Ihr geht es nicht nur um ein realistisches Abbild der eigenen Welt. Vielmehr findet sie im Privaten und Vertrauten ihres familiären und freundschaftlichen Beziehungsgeflechts den Stoff für fiktionale zwischenmenschliche Erzählungen. Diese hält sie in ihren - zum Teil bewegten, mit einer Tonspur unterlegten - Bildern fest. Ruth Erdt begreift dabei die Fotografie als überaus taugliche Form von Fiktion.

Enthüllung und Verunklärung

Das jüngste Werk dieser Erdtschen Strategie präsentiert die Fotostiftung Schweiz nun als das neuste Resultat ihrer Spurensicherung in der schweizerischen Fotografieszene. Die Arbeit unter dem Titel «Die Lügner» geht auf ein früheres Werk zurück, das Ruth Erdt 2001 als «The Gang» in Gestalt einer Publikation vorgestellt hatte. Erdts Kinder, ihre Partner, Freunde, Fremde, Tiere und auch die Fotografin selbst kamen in jener Familiensaga im weitesten Sinne vor. Einige der damaligen Protagonisten spielen nun auch in den «Lügnern» mit.

In der Ausstellung bilden lose gehängte Fotos in Farbe und Schwarz-Weiss von unterschiedlichen Formaten einen Prolog zur zentralen Installation der Schau: der zehnminütigen Doppelprojektion, die sich als ein endloser Bilderfluss ausnimmt. Neben dem akustischen Umfeld, komponiert von Marc Zeier, lebt diese Installation vor allem von der raffinierten Kombination der Bilder: Starke, bewegende Eindrücke werden erzeugt, die sich allmählich zu einer Erzählung zwischenmenschlicher Gefühlswelten verdichten. Adoleszenz und Altern, Zärtlichkeit und Gewalt, Geborgenheit und Einsamkeit werden angesprochen. Dennoch bleibt ein konkreter Bezug zur Realität der abgebildeten Protagonisten aus. Ruth Erdts Enthüllungen des Privaten gleiten fortlaufend in die Verunklärung des Fiktiven ab. Dem Ungesagten gilt Erdts Aufmerksamkeit denn auch weit mehr als dem direkt Gezeigten. Daraus dürfte sich wohl auch der Titel dieser Arbeit erklären.

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LIAR LÜGNER by Ruth Erdt English, 24 × 30.5 cm, 192 pages, 61 color and 68 black & white plates, hardcover clothbound with blurb Kodoji Press, Baden 2019, ISBN 978-3-03747-022-0 Retail price CHF 52.00

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WER LÜGT, WER SAGT DIE WAHRHEIT?

NZZ am Sonntag September 2010

Von Nadine Olonetzky

Körperlichkeit in all ihren Facetten zieht sich als roter Faden durch diese Bild-Collagen. Die Sinnlichkeit, die sowohl Erdts oft porträtierte Tante wie die Künstlerin selbst ausstrahlen, ist derjenigen der verschiedenen jungen Männer ebenbürtig. Nacktheit, Küsse oder Umarmungen sind aber nur die offensichtliche Ebene dieser Erotik. Auch die Kinder mit ihrem unmittelbaren, ungezwungenen Hunger auf Leben und Entdeckung haben ihre ganz eigene Sinnlichkeit und physische Präsenz.

Und selbst die Gegenstände haben ihr körperliches Dasein in dieser Bildwelt, die eigentlich vor allem von der atemberaubenden Unübersichtlichkeit erzählt, in der wir uns alle (nur manchmal atemlos) bewegen. Gleichzeitiges und Widersprüchliches sind auszuhalten. Zauberhaftes und Teuflisches stehen dicht nebeneinander. Und nie ist das Ganze zu fassen, von Überblick gar nicht zu reden. Manchmal kommt es zu Kollisionen, sogar schweren Zwischenfällen mit Wunden, späteren Narben. Manchmal liegen wir aber auch Haut an Haut beisammen, fühlen uns verstanden und geborgen. Fast immer aber ist ein aufmerksames Navigieren durch die Untiefen notwendig, das nur vorläufig gültige Entscheide hervorbringt, kurze Verschnaufpausen, in denen wir so etwas wie Übersichtlichkeit zu spüren vermeinen. Und manchmal ist das Dasein schlicht ein brutaler Balanceakt. Wie in jenem Bild, das Ruth Erdt in Indien aufgenommen hat: Einem kleinen Kind wird das Kunststück aufgezwungen, mit einem Sack über dem Kopf über ein Seil zu balancieren; dahinter liegen das Meer und der Horizont.

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